Phuket (Thailand, im Dezember 2004)
Frankfurt am Main (Deutschland, im Dezember 2005)
Tiefe / Viele Tausend Meter unter dem Meeresspiegel endet eine Phase der relativen Ruhe. Vibrationen künden von einer Spannung, die sich langsam aufbaut. Zwei starke Kräfte wirken gegeneinander. Auf dem Grunde des Meeres vor Sumatra, wo sich zwei Kontinente berühren, ist der Bogen gespannt – über eine Strecke von tausend Kilometern. Dann, mit einem Ruck, der die ganze Welt beben lässt, löst sich das Eine vom Anderen, schnellt Etwas plötzlich davon. Die indische Kontinentalplatte schiebt sich in wenigen Sekunden um über zehn Meter unter die benachbarte Platte, von der man über dem Meeresspiegel Burma, Thailand und Sumatra sehen kann.
Es ist, wie wenn der Bogen sich beim Abschuss des Pfeils plötzlich vibrierend entspannt, weil er seine ganze Energie weitergegeben hat. Noch zitternd ruht er in der Hand des Schützen. In diesem Augenblick der Ruhe ist alles getan. Nichts ist aufzuhalten. Alles was den Pfeil aufhält, wird ihm zum Ziel. Und so beginnen auch die noch unsichtbaren Wogen im Meer ihren Weg. Sie geben den weltbewegenden Schock weiter, werden ihre Ziele finden.
Die Tsunami-Wellen legen in einer Sekunde über zehntausend Meter zurück. Die Kämme sind etwa 200 Kilometer voneinander entfernt. Also trennen am Anfang nur zwanzig Sekunden die Wasserberge. Erst wenn sie sich in Ufernähe austoben, wenn sie auf Ziele treffen, dann werden die Abstände größer, vergeht viel mehr Zeit. Sie sind in dieser Phase 50 km/h schnell und brauchen Stunden, bis sie ihre tödliche Kraft verlieren.
Keine Welle kommt allein. Davor und danach entstehen tiefe Täler im Meer, aus denen das Wasser geisterhaft zu verschwinden scheint. Sie saugen das Wasser vom Strand, den sie später treffen werden. Diese Täler trennen und verbinden die Tsunami-Wellen und sie geben Nachrichten für den, der sie lesen kann.
Weihnachten in Thailand / Am Sonntag, den 26. Dezember des Jahres 2004 befindet sich Ulrich Melzer schon seit Wochen in einer Art Urlaub. Er hat seine Arbeit, die neue Vorlesung, mitgenommen. Sein Forschungssemester, das es für einen deutschen Professor alle vier Jahre gibt, verbringt er in Asien. Die letzten Wochen des Jahres lebt er auf der thailändischen Insel Phuket am Patong-Beach in einem Hotel in Strandnähe. Eigentlich ist Weihnachten, genauer: der zweite Weihnachtsfeiertag, aber nichts beschäftigt Melzer im Moment weniger als das.
Er hat heute Morgen nach dem Frühstück sein Hotel verlassen und die Strandpromenade überquert. Mit nackten Füssen schlendert er durch den Sandstrand in Richtung Meer. Ulrich schaut weit in die Bucht von Patong hinaus, kommt dann mit dem Blick an ihre vertrauten grünen Grenzen links und rechts: den Dschungel. Irgendwie bleibt sein Blick nun aber links hängen, er weiß nicht genau wo und schon gar nicht warum. Dort, am Ende des Strandes ist nur eine kleine Lagune. Eine steinerne Brücke spannt sich darüber. Dahinter beginnt eine steile, enge Straße, die durch den Dschungel nach oben führt. Er weiß, dass sie zum Logenplatz des Patong-Strandes führt. An diesem exponierten Ort über der Bucht befindet sich das Amadi-Hotel, das ein begnadeter Architekt geplant haben muss. Seine Lage hoch im Dschungel, der die linke Flanke der Patong-Bucht bildet, hat Ulrich sofort fasziniert. Er ist schon viele Male zu diesem magischen Ort über der Lagune gewandert. In vollkommener Ruhe hat er die Hotelbar im Freien betreten, um grünen Tee zu trinken, eine kleine Havanna zu rauchen, seine Notizen und Bücher vor sich auszubreiten und den Blick über die Bucht von Patong schweifen zu lassen. Diese Erinnerungen berühren Ulrich, während er morgens barfuss am Strand steht und noch den Hauch von Kühle genießt, der um diese frühe Stunde vom Meer kommt. Aber er ist tief in Gedanken und bemerkt immer noch nicht, was eigentlich seinen Blick zur Lagune, zum Dschungel und in Richtung des Amadi-Hotels gelenkt hat. Jetzt geht er weiter. Wie von selbst wendet sich sein Körper in Richtung der kleinen Lagune, um den unausgesprochenen Fragen Schritt für Schritt nachzugehen.
Kaufvertrag / Er tappt planlos – so denkt er – durch den Sand und weiß nicht, wo Ao, seine thailändische Geliebte, sich im Moment aufhält. Genau das ist der Kern seiner inneren Beunruhigung. Denn eigentlich gehört sie ihm. Ihre Abwesenheit schmerzt. Ulrich hat 30.000 Euro von seinem Depot in Deutschland hier her nach Phuket transferiert. Die Bank liegt im Hinterland. Dort wartet sein Geld in einem Schließfach darauf, seiner Bestimmung zugeführt zu werden. Er kann es jederzeit abholen, den Schlüssel trägt er immer bei sich. Ulrich Melzer muss nur noch für Ao bezahlen.
Ein deutscher Rechtsanwalt, Klaus Wagner, der in Pattaya lebt und arbeitet und diese Art von Geschäften gut kennt, Thai spricht, über Kontakte ins Milieu verfügt – dieser Mann hat alles für Ulrich arrangiert und abgewickelt. Er hat ihn während seiner Pattaya-Woche kennengelernt. Besonders intensiv wurde der Kontakt mit Wagner deshalb, weil beide in Frankfurt Kommilitonen waren (wenn auch nur beim Uni-Sport). Der Kontrakt, für den Ulrich Melzer bereit ist 30.000 Euro zu zahlen, wurde von Wagner und dem großen Chinesen aus Phuket-Stadt nach Konventionen und Praktiken abgewickelt, die hier in Thailand wohl wirksam sein mögen – aber für ihn ist das alles ganz und gar fremd.Durch den abgeschlossenen Vertrag soll folgendes eintreten: Wenn das Geld morgen, also am Montag, den 27. Dezember 2004, übergeben sein wird, dann soll Ao, die gekaufte Prostituierte, frei sein und mit ihm gehen können. Genau betrachtet ist diese Angelegenheit also ein Fall von Menschenhandel, wenn auch in gewisser Weise ehrenhaft, weil es um Freiheit geht. Der beste Sex-Club in Phuket-Stadt (ein stilloser Beton-Kasten, außen mit rosa Farbe bemalt, innen edel eingerichtet und mit einer riesigen Scheibe versehen, hinter der Mädchen mit Nummern sitzen) – dieser Club wird also eine Arbeitskraft, und zwar die beste und teuerste, verlieren. Das kommt vor. Der Besitzer des Clubs ist ein großer Chinese, mit stechenden Augen und kantigem Kinn, trägt Boss-Anzug, Rolex Submariner, massive Goldkette, fährt einen alten S-Klasse-Benz, ist absolut klischeetauglich. Er hat nach einigem Hin und Her in den Handel eingewilligt. Ulrich wird Ao also freikaufen – wenn man das so nennen will.
Für die Zeit bis die Zahlung erfolgt, der Vertrag in Kraft tritt und Ao ganz über sich selbst (und Ulrich über sie) verfügen kann, bis dahin, also bis morgen um 21:00 Uhr hat Ao noch zu arbeiten. Dagegen konnte auch Ulrichs Anwalt nichts ausrichten. Und es sind harte Sachen, um die es bei ihrem Job geht. Einige sehr solvente Kunden sind vor Ort und auf Ao fixiert. Hier hat der Chinese sich leider durchgesetzt. »Conditio sine qua non!« denkt Ulrich, so oder gar nicht.
Er und Ao konnten sich also in den letzten Wochen lange nicht so oft sehen, wie sie es sich gewünscht hätten. Ihr gemeinsamer Zeitplan wird bis zu dieser Minute hier am Strand noch von Aos Gewerbe diktiert – sonst wäre Ulrich Melzer nicht so früh, so desorientiert und so nervös unterwegs. Wenn Ao nicht da ist irrt er, wie zum Beispiel heute morgen, ein wenig benommen und orientierungslos am Strand umher. Sie fehlt ihm einfach. Ulrich ist dabei, sich auf die Lagune an der linken Seite der Bucht zuzubewegen – eigentlich immer noch ohne genau zu wissen warum. Es ist, als würde er einfach seinem Körper das Handeln überlassen und die sonst sehr zweckmäßige Illusion der willentlichen Lenkung wegwerfen, für ein paar Minuten ganz aufgeben, nur um zu sehen, wo er ankommt, wo ihn das Schicksal hinführt. Es ist ein Orakel des Körpers. Er ist seine eigene Wünschelrute. Melzer ist es sowieso egal was er tut, wenn er wartet, wenn er so schmerzhaft wie jetzt allein ist. Einsamkeit gehört zu seinen schlimmsten Krankheiten. Er hofft innig, dass er nun mit Ao die einzig wahre Medizin gefunden hat.
Zeichen / Die ganze Zeit ist er in Richtung der Lagune weiter gelaufen, wird sie gleich erreichen. Ulrich ist in Sorgen und Gedanken – aber auch gleichzeitig in Erwartung und Freude versunken. Aber er fühlt, dass das nicht alles ist. Diese merkwürdige Stimmung am Strand kann er nicht ganz und gar auf seine Lebenssituation, auf die abwesende Ao, auf seinen Gemütszustand zurückführen. Etwas anderes ist noch da. Ein Stachel sitzt in seiner Wahrnehmung, schmerzhaft, aber noch nicht lokalisierbar. Da draußen ist etwas, das nicht den Weg in seine Aufmerksamkeit gefunden hat. Also orientiert er sich nun, taucht ein wenig aus seiner gespaltenen Stimmung auf, lässt die Welt herein.
Und Melzer bemerkt – ein Nichts! Eine eigenartige, unlogische und unerklärliche Stille, besonders hier, in der Nähe des Dschungels, wo er sich jetzt befindet. Er kann nun über die Lagune hinweg in das dichte Grün sehen. »Es sollte hier viel lauter sein!«, denkt er verwundert. So kennt er es nämlich seit Wochen. »Die Vögel, wo sind die? Wie kann es hier so leise sein?« fragt er sich. Ulrich ist beunruhigt durch die mystische Stille. Sogar das Meer scheint ruhiger zu sein als sonst und im Übrigen auch sehr weit weg. Schlagartig bemerkt Ulrich, dass die Lagune eben im Begriff ist auszutrocknen. So etwas hat er hier noch nie erlebt. Es widerspricht allem, was Ulrich hier über das Meer, über Ebbe und Flut gelernt hat. Was dort zu sehen ist spricht gegen seine Erfahrung. Und so nahe am Dschungel, wo er jetzt steht, hätte er zumindest die Vögel hören müssen. Aber da ist weiterhin: Nichts!
Am liebsten würde er sofort Ao anrufen. Aber Ulrich weiß, dass er warten muss. Sie arbeitet. Dabei kann und will sie auch in den letzten Tagen nicht gestört werden – schon gar nicht durch ein Telefonat. Sie hat feste Prinzipien. »Aber eine SMS muss nach her sein!«, denkt Ulrich trotzig wie ein alleingelassenes Kind. Sie wird ohnehin nur das sanfte Vibrieren des Handys und das kurz Aufleuchten des Displays wahrnehmen, wenn überhaupt. Der Kunde wird nichts davon merken. Manchmal ergibt sich für Ao die Gelegenheit zu einer kurzen Antwort, was Ulrich das Warten angenehmer und die Seele leichter macht. Er schaut zum Amadi-Hotel hoch, verlässt kurz vor der Brücke den Strand, zieht seine Sandalen an, macht sich auf den Weg, um dort oben, wie so oft, beim Teetrinken über die Bucht zu schauen und beim Lesen, Schreiben und Rauchen ein wenig Ruhe, Einkehr und Orientierung zu finden. Bald wird er den Blick über die Bucht genießen, langsam wieder zu sich kommen, ruhiger werden.
[...]
»TSUNAMI – 120 Tage in Thailand«»Ein packender Roman in dem Roland Quant nichts auslässt.«
»Und was bleibt dem Leser? Ein Nachgeschmack von Lust und Liebe, zwischen all dem Salzwasser. Und man will es wahr haben. Trotz der Tragödie. Vielleicht ist das also doch ein Krimi: der Roman zeigt ein Ende, das ein Verbrechen am Leser begeht.«
»Größte Hochachtung gebührt dem Autor, weil er den Helden so durchgängig unsympathisch und getrieben darstellt. Das durchzuhalten ist nicht einfach, weder für einen Autor, noch für den Leser. Ein Buch, das man unbedingt gelesen haben sollte.«
»Wenn möglich, würde ich 6 Sterne geben! Was für eine beeindruckende pornographisch-philosophisch-kriminelle Mischung! Das ganze Buch schafft eine realistische Atmosphäre, als ob man direkt dabei wäre.«
»Entmutigende und heißmachende Sex-Szenen (insgesamt 24!) wechseln die tiefsinnigen philosophischen Überlegungen des Protagonisten ab, die die ganze Breite des zeitgenössischen Diskurses einschließen: Das Problem der Wahl- und Entschlussfreiheit, das Problem der Rechtfertigung von Gewalt, die Probleme von Schuld, Sühne und Strafe und Selbstbestrafung. Dieses einzigartige abstoßend-anziehende Buch ist definitiv lesenswert, danach ist nichts mehr wie vorher.«