"Warum willst du ans Meer, hat sie gefragt;
Du kannst nicht schwimmen und willst ans Meer. -
Genau deshalb, hat er gesagt."



Das Meer in Erwartung der Schwimmer


Cover des Buches Das Meer in Erwartung der Schwimmer

Der erste Tag, die erste Nacht


Du lernst ihn auf einer von Davids Partys kennen.
Er ist alt. Er mißt ungefähr einsfünfundsechzig.
Du überragst ihn.
Er heißt Roman.
David klopft ihm auf die Schulter. Das ist dir fremd.
Er macht das nie, nicht einmal mit dir.
Roman kommt aus Ungarn, sagt David. Und sagt nichts damit.
Du nickst. Deine Augen leuchten.
Hallo, sagt Roman. Sein Bauch spannt. Sein Haar ist strähnig.
Er gibt dir die Hand, energisch.
Es ist Winter, doch er trägt nur ein Hemd. Mit kurzen ärmeln.
Auf einem Unterarm hat er eine Tätowierung.
Eine Rose. Ohne Dornen. Es fällt dir auf.

Ihr steht zusammen, David geht. Einfach so.
Warum bist du hier, fragt Roman. Die Tätowierung zuckt. Er hat kräftige Muskeln.
Das Licht ist blau; abgedunkelt.
Dein Gesicht liegt im Schatten, gut so. Du magst Davids Partys.
Trotzdem hast du nie mit ihm geschlafen.
Hat sich nicht ergeben, irgendwie.
Ist ein warmer Ort, antwortest du. Roman lacht. Seine Zähne sind grau.
Er deutet zur Couch, macht einen Schritt.
Du folgst ihm.

Was machst du, fragst du über seine Schulter.
Aus dem Hemdkragen wachsen Haare. Schwarz; buschig.
Ich bin Maler, sagt er.
Ihr setzt euch.
Zu dir oder zu mir, denkst du. Aber so ist es nicht.
So einfach ist es nicht.
Kennst du Ungarn, fragt er. Seine Augen sind schiefergrau.
Du schüttelst den Kopf.
Er lehnt sich zurück.
Jetzt müßte er rauchen, denkst du. Er raucht nicht.
Du ziehst die Beine hoch, legst sie auf die Couch.
Er beobachtet dich. Bewegungen im Schiefergrau.

Diese Rose. Ohne Dornen.
Sie ist nicht kitschig. Sie paßt zu ihm.
Welche Bilder malst du, fragst du ihn. Er ist überrascht.
Seine Finger spielen mit dem Sofabezug.
Lange, schmale Finger.
Sicher ist er ein guter Maler, denkst du.
Das Blau ist schwach jetzt. Nach dem Winter kommen die Träume, immer.
Porträts, sagt Roman.
David geht vorbei, hebt kurz die Hand. Er ist schlank; dunkel.
Du hast noch nie mit ihm geschlafen.
Porträts, fragst du.
Am Fenster Eisregen. Trockenes, wirres Klopfen.
Roman faßt dich an. Seine Hand auf deinem Arm.
Jemand lacht laut und ordinär.
Vor dir siehst du ein Atelier. Zwei Menschen.
Ein Maler, ein Modell.
(...)

Über den Autor

Peter Leonard, geboren in Mainz, lebt und arbeitet in Spanien.
In seinen Geschichten verarbeitet er Geschehenes und das immer Mögliche,
das in der Erinnerung wacht. Über Literatur sagt er, dass sie jeden Tag
den Kopf erhebt und sich nach Erntehelfern umsieht. Er hat einen Sohn,
dessen Geburt die Werte neu justierte.


"Das Meer in Erwartung der Schwimmer"
9 Geschichten
von Peter Leonard
worthandel : verlag
Paperback, 126 Seiten
Buchformat 13 x 21 cm
ISBN: 978-3-935259-20-0
12,90 Euro